Angst, Orgasmus und der Tod

1970 -77:  Stuttgart, San Francisco, London, Tanger, Berlin

 

 

Der kleine schwarze Hund                                         S. 2

Zuerst nehmen wir Manhattan                                  S. 64

A perfect day                                                            S. 161

Das weiße Schiff                                                      S. 236

Nackter Oberkörper                                                  S. 253 

Megastarkes Nachwort                                             S. 331  

 

 

Der kleine schwarze Hund

 

Ich war in Panik.

Zwei Nächte lang hatte ich schon nicht mehr geschlafen, erregt rannte ich hin und her in der kleinen Zelle, die zurzeit mein Wohnsitz war. Ich hielt das Buch von Sartre in der Hand, indem ausführlich beschrieben wurde, wie leicht man doch sterben könne indem man zum Beispiel einfach nachts völlig überraschend und mit einem Schlag durch Gehirnschlag oder durch Herzinfarkt hinweggerafft wurde. Ich spürte mein Herz schmerzen und fasste mich an den Kopf: Traten mir nicht die Pulsadern schon dick angeschwollen an der Schläfe hervor kurz vor dem Platzen? Knisterte nicht schon mein Hirn, kurz davor, von einem Blitzschlag getroffen abzustürzen?

Und dann, was kam dann?

Nichts, ein schwarzes dunkles Loch von dem ich noch nicht einmal wusste, dass ich mich in ihm befand, weil ich einfach nicht mehr da war, nicht mehr bewusst da, überhaupt nicht mehr da, völlig weg. Ausradiert.

Aber noch schrecklicher als das, was mir nach dem Tod bevorstand, war das was davor kam.

Gar nichts. Ich hatte ja noch gar nichts erlebt. Jung, unwissend und frustriert würde ich ins Dunkel hinabgerissen. Nicht eine Frau hatte ich jemals im Bett gehabt, nicht eine Frau hatte ich am ganzen Körper berührt, nicht eine Frau hatte mich jemals liebevoll geküsst, alles Blühen, aller Zauber der Jugend fehlte mir, wo rauschende Liebesnächte hätten sein können war trostlose Leere. Kaum ein fremdes Land hatte ich gesehen, ich war weder in Paris noch in Shanghai gewesen, weder in New York noch in San Francisco. Ich stand vor dem Nichts und kam aus dem Nichts.

Zum Glück tauchte Werner bei mir auf und ohne ihn auch nur zu begrüßen überfiel ich ihn mit meiner Angst:

„Ich halte es nicht aus. Ich werde verrückt!“

„Was ist los?“

„Du kannst sterben, du kannst jeden Moment sterben, und dann ist es aus!“

„Tja…“

„Kannst du noch schlafen? Macht dich das nicht verrückt??“

„Tja….geht so“

„Du bist weg, du bist einfach weg und was hast du erlebt? Was habe ich erlebt? Gar nichts. Wenn ich doch bloß einmal mit einer Frau im Bett gewesen wäre. Bloß einmal…Gar nichts, gar nichts habe ich erlebt. Wahnsinnig, ich glaube ich werde wahnsinnig…. ich könnte jeden Moment sterben und dann ist alles zu spät“

Wie ein Tiger im Zoo rannte ich hin und her in der kleinen Bude, in der vier Doppelstockbetten standen, fasste mich ab und zu an den Kopf, um zu prüfen, ob er noch funktionierte, ob mein Herz noch Blut in die Adern pumpte.,.

 „Ach weißt du, ich bin auch noch mit keiner Frau im Bett gewesen“ sagte Werner leise, gegen einen Schrank gelehnt.

 Ich stellte mich ans Fenster, spähte hinaus.

„Ich werde wahnsinnig“ sagte ich.

Er stellte sich neben mich und sah mit mir auf den Kasernenhof hinaus und die Wiese dort hinten, die wie Sommer leuchtete und weiter hinten der Wald und ein blauer stiller Himmel darüber, Mitte Juni.

„Aber das kann ja noch werden. Wieso sollten wir das nicht schaffen. Wir gehen einfach in Kneipen und sprechen Frauen an. Ich weiß ein Lokal wo Larry, der Schwarze immer, hingeht. Soll gut sein, viele Frauen.“

„Meinst du, echt?“ sagte ich.

„Ja klar, morgen, morgen können wir schon hin oder heute Abend, warum nicht heute Abend?“ sagte Werner geradezu begeistert.

Oh mein Gott, die Angst flackerte in mir hoch….

„Ach nee, vielleicht doch eher morgen“

 „Okay“ sagte er.  

In der Nacht schlief ich ein, erregt und unruhig, aber ich konnte doch Schlaf finden. Voll Zuversicht und Hoffnung auf  kommende erotische Abenteuer entschlummerte ich ins sternenhelle Dunkel. Gleich morgen Abend würden wir in die Stadt gehen und Frauen ansprechen.

 

Dann, während sie einen Satz in ein Heft schrieb, stellte er sich hinter sie, berührte ihre Schulter, streichelte sie, drückte seinen Kopf an den ihren, spürte das weiche Haar in seinem Gesicht, ihren süßen Duft  und sagte leise:

„Komm wir legen uns aufs Bett“

 

 

In meine Uniform war ich verliebt, sie sah einfach gut aus, kühn und verwegen. Dieses rote Barett auf dem Kopf, auf dem in Silber ein Adler zu sehen war, der sich in die Tiefe stürzte, mit ausgefahrenen Beutekrallen. Wenn wir in der ganzen Kompanie im Gleichschritt über den Kasernenhof donnerten, unsere Stiefel dumpf auf den Asphalt knallen hörten im gemeinsamen Takt und dann der Kompanieführer, der stolz geschwellt neben uns in praller, schenkeldicker Lust einher schritt, „Kompanie, ein Lied!“ brüllte und wir alle aus heiseren Kehlen los grölten, spürte ich das Blut in den Adern strömen und sah mich schon im dunklen Flieger über Kreta und nach unten stürzen, während ich heftig von allen Seiten mit Maschinengewehren beschossen wurde. Sie waren verboten, die alten Kreta-Lieder, die von den Soldaten, die im zweiten Weltkrieg über Kreta abgesprungen waren, gesungen worden waren, aber sie taten gut in den Gliedern, dröhnten blutig, schaurig über das Kasernengelände und die alten Kämpfer, die fünfzig bis sechzigjährigen Feldwebel, Majors und Generäle, kamen dann vom Gesang herbeigelockt aus ihren Amtsstuben und stellten sich gerührt an die Straße, um die Lieder zu hören, die sie selbst gesungen hatten in jungen Jahren. Da waren wir ein Herz und eine Seele, eine todgeweihte Einheit, bereit fürs Vaterland zu sterben. Willige Idioten berauscht von Gesang und Gleichschritt, kurz bevor sie von der großen Wurstmaschine erfasst in kleine Stücke zerhackt wurden.

 

 

“Verdammt! Dieser Werner! Irgendwie ist er ja genial, aber pünktlich und zuverlässig ist er überhaupt nicht, manchmal könnte ich ihn echt auf den Mond schießen!“ Der Leiter der Pressestelle der ersten Luftlandedivision Oberstleutnant Neumann schaute auf die Uhr. „Schon ne halbe Stunde zu spät! In zehn Minuten muss ich gehen und den Feldwebel Hitz kann ich auch nicht ewig warten lassen!“  Es war mein erster Job  beim Magazin „Fallschirm“, ich solle eingearbeitet und dann Redakteur werden. Soldaten unserer Division hatten gerade einen Fitnesspfad in der Nähe der Kaserne im Wald eröffnet, ich sollte den Bericht und Werner die Fotos dazu machen. So lernte ich ihn kennen.

Es war ein sonniger Tag im Oktober, die Blätter leuchteten dunkelrot und gelb, der ganze Boden war  bunt bestreut. Herr Neumann trug eine silbergraue Uniform beschlagen mit den Abzeichen seines Standes und sein rotes Barrett auf seinem Blondschopf. Er war ziemlich jung, so um die 35.

„Wieso machen Sie eigentlich nicht zwei Jahre?“

„Ach, das Soldatenleben ist irgendwie nicht mein Ding“

„Ach hören Sie mal, ist doch ein flottes Leben. Ich fahr einen Audi, den krieg ich kostenlos fürs Testen, ein gutes Gehalt, ab und zu gehe ich springen. Hier sehen Sie mal, mein Springerabzeichen, das kriegen Sie, wenn sie mehr als hundert Sprünge haben“

„Und, haben Sie Angst beim Springen?“

„Nee, jetzt nicht mehr, man gewöhnt sich dran, is aber immer schön, so runter zu segeln und kommt bei den Frauen gut an“ Er grinste, schaute auf die Uhr.

“Verdammt, wo bleibt er denn?“

„Da kommt jemand, ist er das?“

„Ja das ist er“

Dort zwischen den Bäumen schlenderte ein junger Mann uns ganz langsam entgegen, nicht in Uniform, sondern in Jeans und einem silbrig grauen Hemd, das ihm locker über die Hose hing. An seiner Hand war ein kleines blondes Mädchen, das vertrauensvoll neben ihm her tapste mit kleinen Schrittchen und lachte und plapperte. Er antwortete ihr und sie unterhielten sich und kamen langsam auf uns zu und der Offizier platzte fast vor Wut und schrie: „Wo bleiben Sie wieder so lange, Sie haben sich über eine halbe Stunde verspätet!“

„Das Kind“ sagte Werner. „Das Kind hat sich im Wald verirrt und ich musste ihm helfen.“

„Sie können doch nicht einfach ein Kind mitschleppen!“

„Aber das hat sich doch verirrt!“

„Wo?“

„Hier im Wald“

Werner streckte seinen linken Arm in die Richtung aus der er gerade gekommen war.

Der Offizier schaute auf das Kind, dann auf Werner und wieder auf das Kind und schien plötzlich gerührt zu sein von dem kleinen Menschen, der ihn voller Vertrauen ansah.

„Was machen wir denn jetzt?“ sagt er.

„Wir müssen die Polizei verständigen“ sagte Werner. “Die müssen bekannt geben, dass ein vermisstes Kind gefunden worden ist. Ich bring sie hoch in die Kantine, dort kann sie abgeholt werden.“

„Ja“ sagte unser Chef. „Ich fahr schon mal voraus, ich hab den Wagen da und rufe an. Und Sie machen hier ein paar gute Fotos“

„Ja klar“ sagte Werner.

Neumann stieg lächelnd mit einem  kleinen Abschiedsgruß seiner rechten Hand in seinen ganz ungewöhnlich geschnittenen orangefarbenen Audi ein und ich sah Werner zu, wie er Fotos von dem hölzernen Gestänge machte, das Kind immer an seiner Seite. Schließlich kam er zu mir.

„Is ne ziemlich alte Kamera, ich weiß auch nicht so genau wie die funktioniert, hab sie erst heute Morgen in die Hand gekriegt.“ Er beäugte den kleinen Kasten misstrauisch, und wendete ihn hin und her

„Ich kenne mich mit Kameras auch nicht aus“ sagte ich. „Ich hab früher mal eine gehabt, aber die habe ich so selten benutzt“

„Ich hoffe, die Bilder sind was geworden…. Keine Ahnung“ sagte er mit Sorgenfalten auf der Stirn.

Wir machten uns auf den Weg zur Kaserne. Das kleine Mädchen hatte ein blaues Röckchen mit weißen Punkten an und ergriff wieder die Hand von Werner.

„Wo kommst du denn her? Wo ist denn dein Papa und Mama?“ fragte ich es.

„Papa ist weggelaufen, ich weiß nicht wo Papa ist. Auf einmal war Papa weg. Ich hab gespielt und auf einmal war Papa weg“

„Wo hast du sie denn gefunden?“

„Ein Stück weiter unten im Wald, ich bin von der Stadt her gekommen und auf einmal hab ich das Mädchen gesehen, es ist die Straße entlang gekommen und hat geweint. Komisch, wieso die Eltern nicht in der Nähe waren. Ich habe einige Zeit dort gewartet, ob sie vielleicht auftauchen, habe „Papa Papa“ und „Mama Mama“ gerufen. Nichts. Niemand zu sehen, seltsam….“

„Wie heißt du denn?“

Sie schaute mich mit großen Augen an, sagte nichts.

„Mara heißt sie, glaube ich“ sagte Werner.

„Und wieso hast du keine Uniform an, bist du kein Soldat?“

„Doch schon, ich mach grade ein Praktikum unten bei der Zeitung, bei den „Badischen Neusten Nachrichten“

„Und wie ist das so?“

„Geht so, der Chef ist jung, nett, freundlich, aber mein erster Job war doch echt der Kleintierzüchterverein, ich musste zum Kleintierzüchterverein, einen Bericht über die Jahresversammlung, spannend…“

Ich lachte, „Wie lange geht das?“

„Vier Wochen, …aber ist toll, rauszukommen, aus der Kaserne raus, ich genieße das, jeden Morgen gehe ich zu Fuß aus der Kaserne raus und den Berg runter ins Tal und seh die Stadt vor mir, ach was für ein schönes Gefühl, so frei…“

„Hast du zwei Jahre?“ fragte ich ihn.

„Nee, so lange will ich nicht, bin froh wenn ich wieder draußen bin. Und du?“

„Ich mach auch nur die Wehrpflicht“ sagte ich. „Keine Lust. Eigentlich war ich nur zu feige zu verweigern.“

„Wieso?“

„Ach meine Mutter hat mir die Hucke voll gejammert, dass ich  unter der Brücke landen würde, wenn ich verweigere“ Irgendwas an seiner sanften Art und Ausstrahlung machte, dass ich ihm mein Herz öffnete. „Und dass das eine Schande wäre für die ganze Familie und ich soll das auf keinen Fall machen und das Tag und Nacht mit voller Lautstärke, rumgeschrien und gejammert, echt hysterisch. Wahnsinn, das habe ich nicht ausgehalten. Da gabs in unserer Stadt so einen Laden, wo sie einen beraten haben, wenn du verweigern wolltest, aber irgendwie hab ich mich einfach nie hingetraut“

„Echt?“

„Außerdem habe ich manchmal so gedacht, du musst dich wieder vereinen mit dem Volk. Ich war zu weit weg, ich musste wieder runterkommen. Das klingt jetzt ein bisschen blöd, das habe ich bei russischen Schriftstellern gelesen, die sehnten sich immer so nach der Vereinigung mit dem Volk. Dostowjewski, Tolstoi. Mein Vater ist Arbeiter, naja Schriftsetzermeister, aber meine Vorfahren waren Bauern und jetzt habe ich Abitur von so einem altsprachlichen Gymnasium und fühle mich irgendwie entfremdet. Die vom Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, sind mir irgendwie fremd geworden. Irgendwie fühle ich mich schuldig, dass ich mich über die anderen erhoben habe….. Aber die Reichen in unserer Klasse auf dem Gymnasium, die haben sich fein rausgehalten, die haben sich alle Atteste besorgt, dass sie wehruntauglich sind, der eine hat behauptet, dass er einen Scheuermann hat, stell dir vor, einen Scheuermann, klingt bescheuert, muss irgend so eine Verrenkung der Rückenwirbel sein. Die Armen sind zum Bund. Martin, ein Freund von mir aus dem Nachbardorf, ist jetzt auch in unserer Kaserne.“

„Und wo kommst du her?“

Es stellte sich heraus, dass sein Vaterhaus nur ungefähr 10 km von dem meinen entfernt war. Er kam aus Langensteinbach, ein kleines Dorf an einem Hang gelegen östlich von Karlsruhe. Dort gab es ein Schwimmbad und im Sommer bewegte sich öfters ein großer Tross von Kindern aus meinem Dorf mit Fahrrädern über die Berge, um dort  schwimmen zu gehen. Und da fiel es mir wieder ein:

„Gleich beim ersten Mal, als ich zum ersten Mal in diesem Bad war  und grad ins Wasser gehen will, ich gehe so langsam rein und bin so bis zum Bauch im Wasser, ich war so acht, neun Jahre alt, und ich konnte noch nicht schwimmen, auf einmal packt mich eine Hand von hinten am Genick und drückt mich brutal unter Wasser, hält mich eisenhart da fest und lässt mich nicht mehr los, das war so schlimm ich dachte, ich muss sterben, ich hab fast keine Luft mehr bekommen….Das war mein Bruder. Fünf Jahre älter als ich.“

Er lachte „Ich hab auch ein paar ältere Brüder, die haben mich auch ganz schön gequält“ sagte er. 

Natürlich war er auch öfters in diesem Bad gewesen, vielleicht hatten wir uns sogar schon gesehen, ohne etwas voneinander zu wissen.

Dass wir so nahe beieinander aufgewachsen waren, stellte ein Gefühl der Vertrautheit her, jetzt waren alle Schleusen offen, ich sehnte mich nach einem Freund, er war es.

„Wie viele Sprünge hast du?“ wollte er wissen.

„Gar keine“

„Was, du bist nicht gesprungen?“

„Eigentlich wollte ich natürlich. Ich hab mir das großartig vorgestellt, so durch die Wolken zu fliegen und natürlich heldenhaft, abenteuerlich. Aber dann habe ich echt Panik gekriegt, ich konnte nachts nicht mehr schlafen, ich habe Visionen gehabt wo ich mich in so einem Strudel gesehen hab, der mich hinabzieht in ein schwarzes Loch, in den Tod, und dann der ganze Umgangston hier, wie brutal man mit einander umgeht, da habe ich mir gedacht, das ist mir zu gefährlich hier, dauernd siehst du irgendwelche Leute wie sie an Krücken und mit Gips am Bein durch die Gegend humpeln und dann ist Martin, der Freund, von dem ich dir erzählt habe, fast abgestürzt, ich habs gesehen, zufällig habe ich ihn gesehen, ich hab gar nicht gewusst, dass er das ist, er hats mir später erzählt, das war hier bei der Eichelbergkaserne, ich bin grad von der Kantine gekommen und seh das Flugzeug und wie sie rausspringen und da ist einer runter gefallen wie ein Stein und sein Schirm ist nicht aufgegangen, ist nicht richtig aufgegangen, irgendwie hatten sich die Seile verheddert und da waren ein paar Leute um mich herum, die haben das gesehen und die haben geschrien, ich habs erst gar nicht begriffen was los ist, weil ich keine Ahnung hab vom Springen und erst kurz vor dem Boden ist der Schirm endlich aufgegangen, das war knapp. Da hab ich mir gedacht, das reicht mir, das will ich nicht.“

„Ich finds gut“ sagte er. „Klar, du hast wahnsinnig Angst, aber dann, wenn du draussen bist und hängst am Schirm, toll,  ich war wahnsinnig euphorisch wie ich da runtergeschwebt bin, das ist ein unheimlich starkes Gefühl, ich bin fast ausgeflippt, so schön war das, so befreiend, wie ein Traum“

„Und der Aufprall?“

„Hart. Du kommst mit hoher Geschwindigkeit runter. Das ist ja kein Sportschirm, sondern ein Militärschirm, du sollst ja möglichst schnell runter kommen, damit du nicht so leicht abgeschossen werden kannst, wenn du Pech hast, landest du im Baum oder auf einem Felsen oder in einem Graben und dann kann es leicht passieren, dass du dich verletzt. Deswegen laufen hier so viele an Krücken rum, aber du trainierst ja auch den Aufprall“

„Und wie?“

„Du musst dich abrollen. Du musst dich freiwillig auf den Boden schmeißen und abrollen dabei, zur Seite rollen.“

„Echt?...Zeig mal!“

Er löste vorsichtig seine Hand aus der des Kindes, ging einen Schritt zur Seite und ließ sich plötzlich fallen, sackte in sich zusammen und rollte dann zur Seite in eine embryonale Haltung hinein. Es war ein asphaltierter Weg, aber hier auf dem Übungsgelände hinter der Kaserne führ normalerweise kein Auto.

Ich lachte. „Sieht gut aus!“

„Naja, das ist leicht, aber bei der Ausbildung musst du von einem Sprungturm runter, der ist  verdammt hoch“

„Wie hoch?“

„Ich weiß nicht, 15, 20 Meter?“

„Und?“

„Ja, Muffesausen! Wahnsinn, einer hats nicht geschafft. Der ist einfach nicht gesprungen. Aber wenn du es erst einmal geschafft hast, ist es dann nicht mehr so schwer, du hängst ja an einem Seil, und fährst dann runter, du fällst nur ein paar Meter frei und wirst dann aufgefangen“

„Und beim Springen, wie war das, wo du im Flugzeug gehockt bist?“

„Aufregend, klar, Angst, mein Herz ging bum bum bum, schnell. Aber du musst ja nicht selber deinen Schirm aufmachen, du hängst an einer Reisleine, der Schirm geht automatisch auf, wenn du rausspringst“

„Aber wieso ist er dann bei Martin nicht aufgegangen?“

„Keine Ahnung, das sollte eigentlich nicht vorkommen…“

„Is aber vorgekommen.“

„Ich hab Hunger“ sagte das Mädchen.

„Wir sind gleich oben in der Kaserne, da kriegst du zu essen und zu trinken.“

„Und Durst“

„Ja gleich, dauert nicht mehr lange“

Ich nahm die andere Hand des Mädchens und so führten wir sie zwischen uns unter den herbstlichen Bäumen die sanfte Steigung nach oben. Es war ein schönes Gefühl, Werner und ich und dieses kleine Mädchen zwischen uns.

Werner hatte ein ungewöhnliches Gesicht, seine Unterlippe stand vor, seine Nase war leicht gebogen, so sah Caesar aus auf manchen Darstellungen, er hatte blaue Augen und dunkelblonde Haare, die nach vorne über die hohe Stirn gekämmt waren.

„Was willst du eigentlich machen, wenn Du rauskommst?“ fragte ich.

„Ich weiß nicht, Psychologie interessiert mich, aber am liebsten würde ich zum Film, Filme machen, oder Schriftsteller werden… und Du?“

„Psychologie interessiert mich auch, Soziologie finde ich auch spannend, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist, interessiert mich, Philosophie natürlich, ich schreibe gerne, Gedichte, aber eigentlich will ich Künstler werden, ich will mich bei Kunstakademien bewerben.“

Ich fühlte die kleine Hand des Kindes in meiner Hand, das mich immer wieder wie staunend und vertrauensvoll ansah und dieses leichte Zusammenschwingen unserer Worte während wir unter den schönen roten Bäume dahinschritten an diesem klaren hellen Oktobertag und das Gefühl, einen neuen Freund gefunden zu haben, eine verwandte Seele,  erfüllte mich mit Freude.

„Kennst du Werther?“ fragte ich

„Werther? Die Leiden des jungen Werther? Klar, irgendwie sehr schön, so dunkel, so romantisch, so voller Gefühle und Leidenschaft“

„Aber irgendwie auch ganz schön blöd, bringt sich um, weil er ein Mädchen nicht kriegen kann, weil sie einen anderen heiraten will, dabei gibt’s doch so viele andere“

„Ja, aber ich kann das verstehen, sie war so schön, so lieb, die Schöne, die Holde, die Prinzessin…“

Am Nachmittag wurde das kleine Mädchen von ihren Eltern abgeholt.

 

„Hey Uli!“ rief Larry, als wir in die Gaststube traten. Das Gasthaus war nicht in der Stadt, sondern an der Landstraße auf dem Weg in die Stadt. Es war ein breites  altes Gebäude mit dicken Mauern und lag am Fuß eines Berges unweit eines kleinen Flusses, der sich durch das Tal schlängelte, große alte Bäume standen um es herum und man konnte sich gut die Pferde vorstellen, die hier vor der Tür Rast machten, während die Kutscher drinnen auf Holzbänken ihr Bier tranken.  „Setzt euch zu uns!“ sagte Larry. Er war der größte Mann der Kompanie, ein schlanker durchtrainierter Hüne mit breiten Schultern und schmalen Hüften, sein Vater afroamerikanischer Soldat, seine Mutter Deutsche, in Mannheim aufgewachsen, immer einen frechen Spruch auf den Lippen, immer lächelnd, gleichzeitig knallte er stramm seine Hacken zusammen und grüßte zackig die Vorgesetzten, so dass er bei ihnen beliebt war, Zeitsoldat mit Zweijahresvertrag, so dass er ein ordentliches Gehalt hatte, nicht diese mickrigen 160 DM im Monat wie wir Wehrpflichtige. „Holt Euch n Stuhl!“

Wahrscheinlich hatte er deshalb eine gewisse Achtung vor mir, dachte ich, weil ich erstens Abiturient war, er nicht und zweitens im Fitness Test der drittbeste in der ganzen Kompanie von 120 Mann war. Er war der beste.

Larry war der Mittelpunkt des ganzen Ladens. Er saß in dunkelgrüner Kampf-Uniform mit hohen schwarzen Springerstiefeln breitbeinig auf dem Stuhl, den er nach hinten gekippt hatte und dabei leicht hin und her wippte,  an einem Tisch direkt bei der Theke, der umlagert war von Soldaten in Uniform und dazwischen ein paar junge Frauen, alle schwatzten, lachten, tranken und rauchten und ich hatte das Gefühl, dass darunter auch ein paar käufliche Frauen saßen. Es war laut und die Luft war voll von Rauch und Geschrei. Ein deutscher Schlager plärrte in den Raum. Ich ging auf Larry zu, hob meine Hand zum Gruß und stand unschlüssig bei ihm herum, Werner neben mir, die ganze Situation schreckte mich zurück. Es waren rohe Burschen, diese Fallschirmjäger, die meisten hatten nur wenig Schulbildung, eine Lehre hinter sich oder waren einfache Arbeiter, Klempner, Installateure, Kraftfahrer, Bauarbeiter, sie tranken Bier, viel Bier und liebten derbe obszöne Sprüche.   „Was ich echt super schön finde ist, wenn Du kurz bevor die Scheiße rauskommt, noch mal die Scheiße reinziehst, so langsam reinziehst, das ist so ein wahnsinniges Gefühl uuuuui so gut! Und dann langsam wieder rausdrücken, es gibt nichts Schöneres, nicht mal wenn deine Freundin dir einen bläst“ Zum Beispiel. Oder Trinkspruch: „Vom Boden zum Hoden, vom Nabel zum Schnabel, vom Mund in den Schlund!“

„Jetzt holt euch doch n Stuhl und setzt euch zu uns!“ Aber der Tisch war ringsum schon dicht an dicht besetzt, wir hätten uns irgendwo dazwischen quetschen müssen oder in die zweite Reihe setzen. Ich drehte mich um und steuerte auf einen leeren Tisch zu, weiter hinten im Raum, Werner kam mit mir, wir setzten uns, bestellten Bier und schauten Larry zu, wie er drauflosquasselte, so laut, dass andere ihm zuhörten, mit der jungen Frau hinter der Theke lautstark flirtete über die Köpfe der anderen hinweg. Die war sehr schön, lächelte strahlend, ein Engel im Bierdunst, trug ein Dirndl, das mit seinem tiefen Dekoltee ihren üppigen Busen betonte. „Eigentlich mag ich Bier überhaupt nicht“ sagte ich. „Aber soll ich Apfelsaft bestellen, die denken ja, ich bin schwul…äääh so bitter, eklig das Zeug“ „Ich mag Bier eigentlich ganz gerne“ sagte Werner, legte seinen Oberkörper auf den Tisch, stützte seinen Kopf ab mit der Hand und schaute mich forschend an. „Aber hier musst du dich einfach besaufen, das gehört hier einfach dazu“ sagte ich. „Genau, also lasst uns saufen!“ sagte Werner. Wir mussten lachen. Der Engel stellte uns zwei Humpen Bier auf den Tisch, lächelte wie eine Verheißung auf künftige Liebesnächte und wir beide schauten zu ihr auf, ihren Blick aufsaugend wie hungrige junge Wölfe die Zitzen der Mama, dann entschwand sie wieder mit schnellen federnden Schritten in Richtung der Theke an Larry vorbei, der sie anfeuerte mit wippenden Worten und ich zog eine Schachtel Camel aus der Tasche, zog eine Zigarette heraus und entzündete sie. Ich war das noch nicht so gewohnt, das Entzünden von Zigaretten ging mir noch nicht so leicht von der Hand, ich fummelte ein bisschen ungeschickt am Feuerzeug herum. Ich spürte Schweiß in meinen Händen und mein Herz schlug hektisch. Der Rauch zog ätzend in meine Lunge. Werner rauchte nicht und beobachtete mich wie ein Insektenforscher sein Objekt..  Links von mir sah ich an einem Tisch im Halbdunkeln drei junge Frauen sitzen, Gymnasiastinnen waren sie nicht, das war klar, aber hübsch herausgesputzt sahen sie aus, konspirativ die Köpfe zusammengesteckt, kichernd, und tuschelnd. Was machen denn die da? Dachte ich. Suchen die Männer, sind die an Soldaten interessiert? Irgendwie waren wir falsch gekleidet, wir hatten keine Uniformen an, sahen langweilig aus mit Jeans und T-Shirts und leichten Windjacken, die anderen strahlten etwas derbes aggressiv Sexuelles aus in ihren Arbeits- und Kampfuniformen.  Bei ihnen wusste man, woran man war, das waren Männer, die wollten ficken. Aber wir?

Langhaarig, schlaff, schüchtern…Abiturienten.

„Was machen wir jetzt?“

„Tja, weiß auch nicht..“ sagte Werner. Er hatte sich wieder in eine fast liegende Stellung gebracht, stützte seinen Kopf vor dem Fall auf die Tischplatte mit der Hand ab, wölbte seine Unterlippe vor als schmolle er.

„Lass uns trinken!“

„Zum Wohl!“

„Prost!“

Eklig das Zeug. Ich zog an der Zigarette, mein Herz zog sich zusammen, es schmerzte leicht.

„Die Frauen dort drüben…sollen wir die mal ansprechen?“

„Wo?“

„Hinter dir“

„Was… hinter mir?“

Er tat erstaunt, dabei hatte er sie schon lange bemerkt, hatte ab und zu zu ihnen rüber gelinst.

Er drehte sich um, schaute sie groß an, die bemerkten seinen Blick, lachten, eine erhob ihr Glas und lachte ihm zu.

Er nahm das Glas, erhob es, lächelte ihr zu, drehte sich wieder um. „Hey, da ist was drin, sollen wir mal rüber zu denen?“

„Ich weiß nicht“ sage ich, zog an der Zigarette, schaute rüber zu Larry, der als Ausbund der Lebensfreude auf seinem Stuhl hin und her wippte und seine lustigen Kulleraugen erglänzen ließ, um den Engel am Zapfhahn zu erfreuen, der rauschend das Bier in die offenen Gläser strömen ließ.  Ich hatte Angst, was würde passieren, wenn wir rüber gingen zu denen, was würden wir sagen, wie kämen wir weiter, wie kämen wir voran an ihre Körper?

Wir gingen nicht rüber zu denen, wir blieben von Angst gelähmt sitzen, tranken finster noch ein Bier und verabschiedeten uns früh und gingen zu Fuß bei einbrechender Dunkelheit durch den Wald hinauf zur Kaserne, redeten über Realismus in der Literatur, Strukturalismus in der Philosophie und dass es noch viele Gelegenheiten geben wird, Frauen anzusprechen. In dieses Gasthaus gingen wir aber nie mehr und überhaupt schreckte ich davor zurück, in andere Gasthäuser oder gar Diskotheken zu gehen. Irgendwie musste es einen anderen Weg geben, Frauen näher zu kommen, aber welchen?

Dann saßen wir eben doch wieder in irgendwelchen Kneipen und tranken Bier und redeten von ihnen. 

Oft redeten wir über die Liebe.

Beide fühlten wir uns zutiefst ungeliebt. Wir konnten es uns einfach nicht vorstellen, wie das wäre, wenn wir geliebt wären, wenn unsere Eltern uns geliebt hätten, wirklich geliebt. Und wie das wäre, wenn jemand uns liebte, umfassend liebte, wenn wir angenommen wären, so wie wir waren.

Ich dachte, die Frauen seien die Spender der Liebe. Wenn es gelänge, sie für mich zu gewinnen, würden sie mich lieben. Man musste um sie herumtanzen, sie verführen, dass sie einem ihr Herz und ihren Körper öffneten, dass man in sie eindringen konnte, bei ihnen sein, in ihrem Schatten schlafen, an ihrem Busen saugen, in ihrer Wärme sich laben. 

 

 

 

 

Das war ein Abschiedstag, ich schaute aus dem Fenster, dort drüben war Franz früher, als ich klein war in Sommernächten war Franz dort drüben ans Fenster gekommen und hatte zu mir herübergeschaut und irgendwelchen Blödsinn geredet, egal was, Blödsinn halt, aber hat Spaß gemacht, so an den Sommernächsten abends, wenn es langsam dunkel wurde von Haus zu Haus hin und her zu schreien, manchmal hatte er mir Gold gezeigt, kleine Klumpen Gold, weil sein Vater Goldschmied war und immer ein bisschen Gold mit nach Hause nahm, was verboten war, das war Diebstahl, aber war Tradition, machten ja alle irgendwie, die in Pforzheim in der Goldindustrie arbeiteten, er hatte sich sogar eine kleine Werkstatt da oben eingerichtet, wo er mit dem gestohlenen Gold Ringe und Schmuck herstellte, hämmerte mit einem kleine Hammer, die Hühner gackerten noch ein bisschen, aber kaum, es war schon Abend, manchmal kam dann plötzlich sein Vater ins Zimmer oder seine Mutter und sagte, er solle endlich ins Bett gehen und Ruhe jetzt oder mein Vater kam nach oben und verlangte, dass wir ins Bett gehen sollten, aber wir wollten nicht, die Nacht war so schön und es war so schön von Haus zu Haus sich irgendwas zu zu rufen, Das war also meine Welt, dieses kleine Zimmer unter dem Dach in unserem Haus, einem Siedlungshaus in der Siedlungsstraße am Ende der Welt, am Rande des Schwarzwaldes, den man vom Berg oben sehen konnte. Dort hinten die Erhebungen, das waren die Ausläufer des Nordschwarzwaldes, die Autobahn, nachts sah man die Scheinwerfer gespenstisch den Wald und den Himmel erleuchten, keine Geräusche, nur die Lichter der Scheinwerfer, die Autobahn zwischen Karlsruhe und Pforzheim, ob mein Vater daran gebaut hatte? Ab und zu sprach er davon, wie toll es gewesen sei, dass er als junger Mann endlich was arbeiten konnte, im Arbeitsdienst, Autobahn bauen, wir könnten uns das gar nicht vorstellen, wie furchtbar das sei, wenn man als junger Mann keine Arbeit habe und dann zu Fuß in die Stadt gelaufen, zehn Kilometer, um ein paar Mark Arbeitslosengeld abzuholen, weil der Zug zu teuer war, zu Fuß gegangen und dann wieder zurück. Siedlung, wir wohnten in der Siedlung 4, kleine Reihenhäuser in einer Straße, obwohl so klein waren sie gar nicht, zweistöckig auf einem ziemlich großen Grundstück, vorne ein kleiner Garten und hinten Platz für einen Hof und einen Schuppen, trotzdem schämte ich mich immer in der Schule in der Stadt meiner Herkunft, schämte mich des kleinen Reihenhauses mit dem seltsamen Namen Siedlung….klar so prächtig wie die Bürgerhäuser an den Hängen über Pforzheim war unser Häuschen nicht. Warum sie der Straße keinen Namen gaben, keine Ahnung, meine Mutter sagte immer, das sei eine Sauerei gewesen, dass sie unserer Straße keinen Namen gaben, eine Demütigung aber warum?

Vielleicht weil in unserer Siedlung so viele Fremde wohnten, Zugereiste, denen gönnte man im Dorf einen ordentlichen Straßennamen einfach nicht, so mussten wir uns einfach Siedlung nennen, wir nannten unsere Adresse mit Siedlung 4, in den fünfziger Jahren gebaut, kurz nach dem Krieg, ich konnte mich an Kieshaufen erinnern, auf denen ich als kleiner Junge, der kaum gehen konnte, herumgeklettert bin. Obwohl…mein Vater war gar kein Zugereister, meine Mutter schon, sie kam aus Lörrach, immer wieder klagte sie, wie schlecht sie von den anderen Frauen im Dorf behandelt wurde, sie war eine Eingeschneite, man gönnte ihr nicht, dass sie den anderen Frauen im Dorf einen so schönen Mann weggeschnappt hatte, sagte sie…Und ich musste Marita verlassen, das war dann wahrscheinlich endgültig vorbei, meine große Liebe, das süße Nachbarmädchen, das nur ein paar Häuser von mir entfernt wohnte, und immer noch zur Schule ging, sie war ein paar Jahre jünger als ich und nie, kein einziges Mal hatte ich ihr gesagt, wie sehr ich in sie verliebt war. Die Tage als ich ihr Nachhilfestunden gab oben in ihrem kleinen Zimmer unter dem Dach und sie saß neben mir mit ihren langen schlanken Beinen und dem kleinen kurzen hellblauen Höschen, Ihre Blicke, ihr schönes Gesicht, ihr Lachen, ihr zartes Wesen, aber ich traute mich nicht…..irgendwas zu sagen, irgendwas zu tun. 

 

Dann, während sie einen Satz in ein Heft schrieb, stellte er sich hinter sie, berührte ihre Schulter, streichelte sie, drückte seinen Kopf an den ihren, spürte das weiche Haar in seinem Gesicht, ihren süßen Duft  und sagte leise:

„Komm wir legen uns aufs Bett“

 

Ja das waren meine Träume, ich stellte mir immer vor, wie es wäre, wenn…aber irgendwie konnte ich es mir nicht so recht vorstellen, weil ich liebte sie ja auf eine ganz ehrfürchtige Art und Weise, da hatte ihr Körper und sexuelle Veranstaltungen nicht so richtig Platz, sexuelle Spiele waren schmutzig, sie war heilig, Marita war meine Prinzessin, die ich auf Händen tragen wollte…..

Ja Scheiße und jetzt war es vorbei, jetzt kam gleich mein Bruder vorbei, um mich abzuholen, und nach Stuttgart zu bringen und dann war Marita weit weg, naja so weit war das auch nicht, fünfzig Km vielleicht? Jedes Wochenende konnte ich wieder nach Hause fahren und dann bestand die Möglichkeit immer noch, es ihr irgendwann zu sagen, aber dann, was wäre dann? Das liefe dann auf eine Hochzeit hinaus, aber wollte ich das? Und so oft nach Hause wollte ich auch nicht.

Mein Bruder machte das besser, alle paar Wochen eine neue Freundin, super, das große Abenteuer.

Was mache ich mit den Zeichnungen? Soll ich sie mitnehmen? Waren so viele, alle möglichen Perversionen, von mir eigenhändig gezeichnet und in einem alten Koffer versteckt, den ich unter meinem Bett verstaut hatte 

 

„Ulrich kommst du runter, Essen ist fertig!“

Sollte ich vielleicht besser mitnehmen. Zu Hause waren sie nicht sicher. Alle? Vielleicht ne kleine Auswahl, die besten, die mich am meisten erregten…

„Ja, ich komm gleich!“

Das war mein Reich hier, das Zimmer unter dem Dach, seitdem der große Bruder aus dem Haus war und Konrad, der mittlere Bruder nach unten in den zweiten Stock gezogen war, das Haus abbezahlt und wir keine Mieter mehr im Haus hatten war viel Platz und ich hatte hier oben sogar zwei Räume, einen Schlafraum und ein kleines Wohnzimmer, schräge Wände klar, aber wäre es nach meiner Mutter gegangen, hätte ich hier wohnen bleiben sollen und in Karlsruhe studieren, das war näher, nur zwanzig Km entfernt und jeden Tag mit dem Zug hin und her fahren, wäre auch billiger gewesen, ich hätte keine Miete zahlen müssen und Mutter hätte weiter für mich kochen und mir die Wäsche machen können. Andererseits, wo wäre dann das große Abenteuer geblieben? Ich wehrte mich heftig gegen den Plan, Wolfgang mein großer Bruder war ja auch nicht zu Hause geblieben, hatte in Freiburg und Innsbruck studiert, Innsbruck vor allem wegen dem Skifahren, er hatte Theologie studiert. Aber die Hoffnung meiner Eltern, dass er Pfarrer werden würde, hatte sich zerschlagen, er hatte eine Frau geheiratet. Eine Millionärin….Lange Zeit hatten sie auch in mich die Hoffnung gesetzt, dass ich Pfarrer werden würde, aber als sie erleben mussten, wie die Haare meines Bruders immer länger wurden und er mit revolutionären Ideen um sich warf, den Vater wegen seiner Nazi-Sympathie attackierte und mit immer neuen Freundinnen prahlte, vermutlich sogar noch homosexuelle Spielchen trieb, hatten sie alle Erwartungen und allen Druck auf mich, Theologie zu studieren fallen gelassen, was eine große Erleichterung war.

Zum Glück hatte mich Wolfgang darin unterstützt, aus dem Haus zu kommen und ein ordentliches Studentenleben zu führen…Es würde toll werden, endlich frei sein, die Kaserne vergessen, eine eigene Wohnung. Und kein Mensch würde mehr über mich bestimmen und ich könnte nachts so lange aufbleiben wie ich wollte und in Kneipen gehen und rauchen und morgens lange ausschlafen und Frauen kennen lernen und auf Partys gehen… Wolfgang hatte mir ein Zimmer besorgt bei einem schwulen Pfarrer, den er von seinem Job als Lektor bei einem christlichen Verlag kannte. Genauer gesagt war der gar nicht mehr Pfarrer, sondern Lektor, weil er irgendwas mit Kindern angestellt hatte.  So genau wollte mir Wolfgang das gar nicht sagen, nuschelte irgendwas von „hat sich daneben benommen“, ich solle eben ein bisschen vorsichtig sein und mich nicht darauf einlassen, wenn er um mich werbe

„Ulrich, komm jetzt endlich! Essen wird kalt!“

„Ja, ich komme schon“

Nur noch die Zeichnungen in die Tasche stopfen, welche nehme ich denn?

Die sind gut, die mit den Kindern und den Tieren, drei Männer mit der angebundenen Frau oder den hier: Mama ficken, Mama ganz dick mit Riesen Busen und der kleine Mann zwischen ihren Schenkeln….

Und die anderen, wo versteck ich die am besten, unter der Matratze?

„Ulrich!“ Das klang verdammt ärgerlich.

„Jaaaaa, ich komm gleich!“

Unter der Matratze waren sie nicht sicher, unter dem Schrank vielleicht, ja unter dem Schrank, da war ein kleiner Spalt, der Schrank  war schwer, der würde nicht so leicht weg geschoben werden. Die Zeichnungen in eine Tüte rein und ab damit. Ganz nach hinten.

Geschafft.

„Ich komme!“

Ich stolperte die Treppe hinunter, die Tasche in der Hand und hatte Angst, gleich würde Wolfgang kommen, der war immer irgendwie gefährlich, weil er auf mir herumhackte mit Worten, früher als ich noch kleiner war, hatte er mit Fäusten auf mir herumgehackt, jetzt mit Worten, naja, er gab sich Mühe nett, zu sein, aber das war eben seine Art, er hatte so eine Art Häckselmaschine im Kopf, die alles klein machte, was andere brachten, darstellten oder darboten und das betraf nicht nur mich, Innsbruck fiel mir ein, wo ich ihn vor ein paar Jahren mit meinen Eltern mal besucht hatte, ich war mit ihm in der Mensa und da setzte sich eine sehr schöne junge Frau zu uns, saß uns gegenüber und die ganze Zeit hackte er verbal auf sie ein, dass sie regelrecht zusammen zuckte, aber auch lachte, errötete und sich wand unter seinen Schlägen, er hatte mit ihr geflirtet, so flirtete er, von wegen sie sei zu blöd, einzuparken, Skifahren könne sie auch nicht und im Studium sei sie eine Niete. So platt sagte er das nicht, aber darauf lief es hinaus. Seine Frau nannte er „Dummerle“, „Du Dummerle“ sagte er öfters, war aber gar nicht böse gemeint, die Amerikaner hatten es auch nicht böse gemeint, als sie unsere Städte bombardierten, wahrscheinlich hatte Wolfgang diese Häkselei aus unserer Familie gelernt, Mama hatte auch so scharfe Zähne im Gesicht, sehr scharfe Zähne…

Unten im Gang standen zwei Koffer und eine Reisetasche, eine Jacke lag auf der Tasche. Ein Schreibmaschinenkoffer daneben. Ich stellte die Tasche mit der schweren Fracht dazu und ging in die Küche.

„Musst du mich immer so lange warten lassen!“

Mama war aufgebracht, humpelte durch die Küche und streifte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Und Wolfgang kommt auch gleich“

„Naja, der kann ja auch n bisschen warten, was gibt’s denn?“

„Hier iss, aber beeil dich!“

Mama legte aus der Pfanne eine Bratwurst auf den Teller, der schon mit Kartoffelsalat bedeckt war, daneben stand eine kleine Schüssel mit grünem Salat.

„Mmmm fein, Bratwurst!“ sagte ich und ergriff die Gabel.

Ich hatte Angst, gleich würde Wolfgang kommen. Vielleicht kam sogar seine Frau mit, noch größere Angst, sie war von den oberen Zehntausend, ihre Eltern wohnten oben am Killesberg über Stuttgart, Verleger…leider keine literarischen Verlage, sie machten Sachbücher.

Mama setzte sich zu mir

„Recht ist es mir nicht, hast du doch sone schöne Wohnung da oben unterm Dach, was musst du jetzt nach Stuttgart?“

„Aber Mama, das haben wir doch jetzt schon hundertmal diskutiert. Ich will halt auch ein bisschen Studentenleben, hat doch Wolfgang auch gehabt.“

„Der Doller Manfred studiert auch in Karlsruhe, der fährt jeden Tag hin und her“

„Der Doller Manfred, ich bin nicht der Doller Manfred“

„S wär halt viel billiger, in einer halben Stunde bist du in Karlsruhe, ich verstehe das nicht“

„Ich schon“

 „Und was treibst du dann in Stuttgart, Partys und Drogen? So mit dem Studentengeziefer durch die Nächte? Werde mir bloß kein Hallodrie, bitte nicht Ulrich!“

„Ach reg dich nicht auf, ich bin brav“

„Wenn du dir bloß mal die Haare abschneiden würdest“ sie fummelte an meinen Haarspitzen herum, die auf meiner Schulter lagen. „Das sieht fürchterlich aus, du machst mir Sorgen, glaub mir, du machst mir Sorgen, wie du aussiehst“

„Mach dir keine Sorgen Mama, ich komme jedes Wochenende nach Hause, ist ja nicht weit“ War gelogen, ich dachte nicht daran, jedes Wochenende nach Hause zu kommen, erst mal schön lange weg bleiben war mein Plan.

„Ja so weit ist es ja nicht“ sagte sie seufzend.

„Aber denk daran, es gibt viele böse Menschen draußen, pass bloß auf, dass du nicht unter die Räder kommst. Glaub mir, es ist gefährlich!“

„Ach Mama, ich pass schon auf“

„Ich bete für dich, Ulrich. Dass du mal wieder zu Verstand kommst. Dass du nicht mehr in die Kirche gehst, das tut uns schon sehr weh. Ich kann manchmal nachts nicht mehr schlafen, wenn ich dran denke.“

„Lass mich mit der Kirche in Ruhe, der Papst soll mal was von seinen Kunstschätzen verkaufen und den Armen geben, dann gehe ich wieder in die Kirche“

War gelogen. Der Papst hätte den Petersdom verkaufen können, ich wäre trotzdem nicht in die Kirche gegangen, ich glaubte nicht mehr an Gott, das war der Punkt. 

„Da hast du schon recht“ sagte sie „Aber trotzdem…Die Kirche macht ja auch viel Gutes, die ganzen Krankenhäuser und Waisenhäuser und Altenheime“

„Wann kommt denn Wolfgang genau?“ Ich wollte von diesem Thema weg.

Sie schaute auf die Küchenuhr, die über uns an der Wand hing. „Is ja schon zwei, der muss jeden Moment da sein, um zwei wollte er kommen. Warte mal!“

Sie stand auf, ging ins Nebenzimmer und kam mit einem Schlafanzug zurück, der gefaltet auf ihrer Hand lag. „Der is von Papa, willst du den nicht noch mitnehmen?“

„Mama, ich hab doch schon zwei in meinem Koffer“

„Aber der ist schön, schau mal, den hat er kaum angehabt und bald ist Winter, da kannst du was Warmes im Bett gebrauchen“    

„Nee Mama, ich hab doch schon zwei und wenn der Winter kommt, dann kann ich ja noch mal fragen“

Sie schüttelte den Kopf. „Euch geht es zu gut. Wenn ich so einen schönen Schlafanzug bekommen hätte, da wäre ich froh gewesen. Wir haben andere Zeiten mitgemacht. Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, was wir für harte Zeiten durchgemacht haben.“ Sie ging ins Nebenzimmer, verstaute den Schlafanzug wieder im Schrank, kam zurück.

„Hast du alles?“

„Ja, zwei Koffer das ist genug, Möbel sind doch da, hat Wolfgang gesagt“

„Hast du genug Geld?“

„Ja, zweihundert Mark, das reicht erst mal, die Miete ist ja schon bezahlt, hoffentlich kommt bald das Bafög“

„Hier, da hast du noch was“ Sie holte einen Fünfzig Mark Schein aus ihrer Schürzentasche.

„Ach lass doch, ich hab genug“ sagte ich.

„Nimm doch!“ Sie streckte ihren Arm aus, den Schein in der Hand, ich nahm ihn, steckte ihn fast achtlos in meine Hosentasche.

„Danke“

„Streng dich an, Ulrich! Mach was aus deinem Leben! Lass dich nicht so hängen!

Das mit der Kunst hat ja jetzt nicht geklappt, aber mit der Germanistik kannst du ja Lehrer werden. Da hast du ein schönes Gehalt und wenig Arbeit und außerdem bist du Beamter und kannst nicht gekündigt werden. Lehrer am Gymnasium. Da hätten wir uns die Finger danach geleckt, wenn wir die Chance gehabt hätten, so einen Beruf zu ergreifen, wir konnten nicht aufs Gymnasium, eine kaufmännische Lehre, das ist alles, was bei mir drin war, wir mussten arbeiten und Geld verdienen, das waren andere Zeiten, drum sag ich dir, streng dich an, dann kommst du voran, die Chance musst du nutzen!“

„Ja klar, ich mach das schon“ sagte ich. Ich dachte nicht daran. Wie ich die Vorstellung, Lehrer zu werden hasste. Langweilig verspießerte Scheiße!

Plötzlich hörte ich ein Rumoren auf dem Gang vor der Tür, Stimmen, das war Wolfgang, Angst schoss in mir hoch ins Rot. Alarm. Ella war dabei!

„Hey, kleiner Bruder, alles beisammen? Kanns losgehen?“

Kleiner Bruder, wie ich das hasste.

Er preschte in die Küche wie ein Überfallkommando, seine Frau im Schlepptau, gab mir die Hand, drückte energisch zu, seine schwarzen Haare gegehlt, straff ölig glänzend nach hinten gekämmt. Eine Sonnenbrille in der Brusttasche seines Hemdes, die Brustmuskeln gespannt.

„Hey, Hey! Nicht so schnell, setzt Euch doch erst mal! Wollt ihr was essen oder trinken?“ sagte Mama.

„Hallo Mama!“ sagte er, gab ihr die Hand.

„Nee, ich habs ein bisschen eilig, wir müssen heute Abend zur Geburtstagsfeier von Tante Waltraud, die wird 75, das ist wichtig “

„Du kommst auch nicht mehr so oft, warum lässt du denn wochenlang nichts von Dir hören?“

„Ach, ich hab immer so viel zu tun“

„Grüß Dich Ella“

Die gab Mama artig die Hand, deutete sogar einen kleinen Knicks an.

„Hallo Frau Wessinger, wie geht’s denn?“

„Ach, ich hab halt immer Schmerzen mit meinem Fuß“

„Oh je, setzen Sie sich doch!“

Sie war immer so freundlich und nett zu meiner Mutter.

„Nai Nai, ihr sollt euch setzen, bitte da ist noch Platz, wollt ihr nicht eine Kleinigkeit essen?“

„Ach so ne Bratwurst hätt ich auch gerne…“

 

 

Zehn Minuten später umarmte ich Mama, die weinte und ging zu meinen Koffern.

„Ihr passt auf ihn auf!“ rief sie mir hinterher.

„Ja klar!“

Wolfgang nahm einen Koffer und die Schreibmaschine, Ella den anderen Koffer, ich die beiden Taschen. Draußen wartete Wolfgangs weißer BMW auf uns. Gebraucht, älteres Modell aber gut gepflegt und ziemlich schnell.

„Kommst du am Wochenende?“ rief Mama.

Ich stand schon unter der Tür.

„Jaa“ sagte ich.

 

Phase 1)Die Erektion ist nicht schmerzhaft, sondern an sich lustvoll. (…) Das Genitale der Frau wird blutreich und durch reichliche Sekretion der genitalen Drüsen in typischer Weise feucht. Führend ist die Erregung der Schleimhaut der Scheide. Ein wichtiges Kennzeichen der orgastischen Potenz des Mannes ist der Drang zum Eindringen.*

 

Ich stieß die Dachluke auf und betrachtete die düsteren Fassaden der anderen Wohnhäuser in meiner Straße. Der dunkle Reiz alter Eleganz und verlebter Pracht,... Jugendstilfassaden, protzig, irgendwie traurig unter dicken Schichten von Ruß und Abgasdreck, aber mächtige hohe geräumige Häuser, gediegener Reichtum, nervöse Geräusche von unten von der Straße her, die ich kaum sehen konnte, ich musste mich weit vorbeugen um über das Dach vor mir die Autos zu sehen, die hupten, es hallte empor zu mir.

Von den Bergen herab pfiff ein strenger kalter Wind in meine Stube und belebte meine Wangen mit seinen eisigen Nadeln. Ich war im vierten oder fünften Stock.

Meine Wohnung bestand aus einer kleinen engen Bude. Zum Duschen musste ich zwei Stockwerke tiefer in die Wohnung des schwulen Ex-Priesters gehen.

 

*

Zitat aus: Die Funktion des Orgasmus, Wilhelm Reich, Kapitel: „Die orgastische Potenz“. Alle folgenden Orgasmus-Zitate aus dem selben Kapitel

 

 

Die sah herrschaftlich aus mit den hohen stuckgeschmückten Decken, dem Parkettfußboden, den weiten Räumen, den gediegenen alten Holzmöbeln. Dort konnte ich auch die Küche benutzen. 

Plötzlich brach die Sonne durch die Wolken und jetzt sah die Straße schon viel freundlicher aus. Ich gab mir einen Ruck, also los jetzt, es muss sein, ich muss raus an die Front. Heute werde ich wieder etwas laut in einem Seminar sagen und mindestens eine fremde Frau ansprechen. Das war mein Plan, mein Gesetz, und bisher hatte ich mich auch daran gehalten. Allerdings war das auch nicht so lang, gerade mal drei Wochen.

Oh Shit! Es war schon zehn vor elf und um elf ging es los im Turm, in diesem Hochhaus, in dem die Seminare bei Dr. Pfister stattfanden. Ich griff nach meiner Tasche,  streifte den Mantel über, betrachtete mich noch mal kritisch im Spiegel: Wie sah mein so eben frisch zurechtgestutztes Bärtchen aus, das sanft meinen Mund umschmeichelte, fielen die schönen rotblonden Locken noch so elegant wie ich es liebte?

Okay, gar nicht schlecht, so ein bisschen wie ein Räuberhauptmann, Schiller in Stuttgart.

Den Kragen meines Mantels stülpte ich nach oben und stiefelte los, polterte die breite Holztreppe hinunter und sah vor der Tür meines Vermieters einen Tänzer stehen, einen dieser berühmten Tänzer vom Stuttgarter Ballett.  Ich sagte: „Oh Hallo! Sie wollen sicher zu Herrn Kuhn! Dann kommen Sie doch rein.“ Er lächelte und drehte sich leicht auf seinen zierlich gespannten Beinen. Er hatte keine Hose an, sondern eine Art Strumpfhose, wie sie Tänzer bei Aufführungen tragen.

Und waren das tatsächlich Ballett-Tanzschuhe, die er da anhatte? Sah ganz so aus. Ich kramte den Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und sah Herrn Kuhn in einem alten, roten, schweren samtenen Morgenmantel in der Tür seines Salons stehen, ganz entzückt breit lächelnd:

„Oh schön, du kommst zum Frühstück. Dann setz ich rasch einen Kaffee auf. Komm schon rein!“

Er meinte den Tänzer. Ich stürzte ins Badezimmer, reinigte so schnell wie möglich meine Zähne, entleerte mich und rannte hinaus, durch den großen Empfangsraum auf die Treppe und dann hinunter in die Straße, die mich kalt empfing mit ihrem Geruch von Abgasen und gestressten Menschen. Mitte Oktober…

Wie ein mittelalterlicher Kämpfer fühlte ich mich als ich mich durch den Verkehr wand und dann wieder als Indianer, der schnellfüßig über eine Kreuzung hüpft und im Unterholz der Fußgänger verschwindet und dann als schneller Läufer flog ich durch die Passage und sah in der Ferne das Hochhaus aufragen und silbrig hellblau leuchten und Angst ergoss sich wie ein nächtlicher Strahl aus einer Neonröhre in meine Brust und mein Atem keuchte

Ja heute würde ich wieder was sagen, aufstehen und meine Stimme erheben und gehört werden. Irgendwas.
Vielleicht sollte ich was mit Wilhelm Reich sagen. Ich las gerade "Die Funktion des Orgasmus" von Wilhelm Reich, dem Psychoanalytiker, der schwer unter Studenten in Mode war.  Darin war der Mensch als große Blase beschrieben, die sich rhythmisch entleeren und wieder füllen sollte, damit der Mensch gesund und fit bleibe. Bei den meisten zivilisierten Menschen sei da aber eine Art Stau, die Entleerung im Orgasmus fände nicht satt und stattdessen platze der Mensch fast, überfüllt von Säften, die keinen Ausgang finden. Er war so eine prall gefüllte Blase. Aber wie das mit der Onanie war, dazu sagte Wilhelm Reich fast nichts. Ein Orgasmus aus Onanie geboren war wahrscheinlich kein richtiger, nur ein halber und führte deswegen nicht zur richtigen Entladung. Sonst wäre ich ja gesund gewesen, aber so fühlte ich mich nicht. Total aufgeladen, aufgeregt, überdreht fühlte ich mich, Angst pumpte Glut in meinen Kopf.
Goethe war doch sicher auch so ein Gestauter, fast Platzender, dachte ich, das ließe sich doch wahrscheinlich auch in seinem berühmten Gedicht. "Über allen Wipfeln ist Ruh" zeigen. Seit drei Wochen behandelten wir jetzt schon dieses eine Gedicht im germanistischen Einführungsseminar, dieses eine kleine Gedicht. War schon erstaunlich was man damit alles anstellen und zeigen konnte. Klar war Goethe gestaut, diese Frau von Stein hat ihn ja nie rangelassen. Da war also eine Sehnsucht nach dem Orgasmus, die keine Erfüllung fand und daraus entstand diese vage Hoffnung, im Tod Erlösung zu finden, der Tod als der wahre Orgasmus, der Superorgasmus, der alles verschlingt.

„Warte nur balde, ruhest du auch“

Und zwar endgültig.
Das sollte ich sagen, dachte ich. Ich würde wieder einen hochroten Kopf haben, das war klar.
"In diesem Gedicht drückt sich eine Anspannung aus, die man nur verstehen kann, wenn man die grundlegenden Mechanismen des menschlichen Organismus versteht. Wilhelm Reich hat in seiner Abhandlung "Die Funktion des Orgasmus" darauf hingewiesen, daß...."
Ja so müsste es gehen. Und dann deutlich machen, dass wir alle den Orgasmus brauchen, alle, auch die Frauen, dass das so eine Art Grundbedarf war, den man decken musste wie den Hunger, den man ja auch befriedigen musste, sonst würde man sterben irgendwie. Wobei der Orgasmus ja auch so eine Art Tod war, das war dann in Bezug auf Gedichte interessant, die Ruhe nach dem Sturm…

 

Über allen Gipfeln ist Ruh

Über allen Wipfeln spürest du

Kaum einen Hauch

Die Vöglein schweigen im Walde

Warte nur, balde ruhest du auch .

 

Jetzt noch durch diesen kleinen Park, da drüben war schon die Straße vor dem Hochhaus.
"In diesem Gedicht drückt sich eine Anspannung aus, die man nur verstehen kann, wenn man den triebenergetischen Hintergrund versteht, aus dem heraus sie entstanden ist….."
Ich deklamierte die Sätze laut und mit ausholenden Gesten, hier im Park hörte mich keiner "...dass der Mensch sozusagen eine lebende Blase ist, die sich füllt und entleert mit jedem Orgasmus. Bleibt der Orgasmus aber aus, haben wir ein Problem. Einen Libidostau. Wenn wir uns das Gedicht von Goethe anschauen, dann sehen wir klar diesen Libidostau. Schon die Eingangszeile „Über allen Gipfeln ist Ruh ..." Hier im Freien, wo mir niemand zuhörte, ging das Reden ganz prima, kaum ein Wort blieb mir im Hals hängen, alles floss leicht aus mir heraus, aber wenn ich das später vor all den Leuten sagen müsste, würden mir die Worte von Angst zerquetscht werden wie Körner von Mühlsteinen. Ich würde wieder stoßweise atemlos sprechen und die Wörter würden mir durcheinander purzeln, weil ich nicht mehr klar denken konnte und ich  mich irgendwo festhalten musste, um weiter zu sprechen, ich würde wieder wie im Delirium durch den Wortsumpf rudern ohne Sinn und Verstand und ohne zu wissen, ob ich da jemals wieder raus finden würden, aber verdammt, ich musste da durch, ich musste da unbedingt durch. Ich musste raus ins Freie, ich musste sprechen lernen. Bilder von der Gymnasialzeit flackerten in mein Gehirn, der Geschichtslehrer, ein bekennender Nazi, der einen Gehirnschuss abbekommen hatte bei einem Sturzflug mit seiner Maschine beim Luftkampf über Russland, rief mich auf, über Heinrichs Reichspolitik zu referieren, die Hausaufgaben, ich stand auf, man musste aufstehen, ich stammelte etwas darauf los, ich verstand selbst nicht, was ich da sagte, weil ich keine Ahnung hatte über Heinrichs Reichspolitik, nur eine vage Erinnerung, aber das spielte keine Rolle, weil sowieso niemand verstand, was ich sagte. Der Geschichtslehrer hatte abgewinkt und mich wieder hinsetzen lassen, ich war ein hoffnungsloser Fall, irgendwie reif für die Klapse. Die Ärzte sagten, ich habe vegetative Störungen, ich schwitzte oft, mein Herz raste schnell und klopfte heftig wie ein durchgedrehter Motor,  öfters in allen möglichen Situationen erglühte mein Kopf wie eine Tomate, dann bekam ich auch noch einen sogenannten Tick, meine Kinnlade zuckte unwillkürlich weg und manchmal zuckte mein Kopf hin und her, ich war von Angst umstellt, ich hatte wahnsinnige Angst, in die Schule zu gehen. Jahrelang hatte ich die falschen Hosen an, die Hosen meiner beiden älteren Brüder, ich war ein Kind vom Land, ich fühlte mich gedemütigt von meinen Mitschülern.

Ich drückte auf den Knopf.

Der Aufzug brummte aufgeregt und ein Spiegel, der die ganze Wand bedeckte, stellte mich in ein grelles Licht.

Es war zwanzig Minuten nach elf.

Ich war wieder zu spät.

Extra wegen mir hatte Dr. Pfister den Anfang des Seminars auf elf verlegt.

Weil ich dreimal, als das Seminar noch um zehn begonnen hatte, ungefähr eine halbe Stunde zu spät gekommen war. Wahrscheinlich war er schwul, wie er mich immer so zärtlich anschaute und all meine stammelnden Beiträge mit großer Beredsamkeit würdigte und belobte.

Ich wäre ja gerne rechtzeitig gekommen, aber die Angst…

 

Ich öffnete vorsichtig die Tür zum Seminarraum.

Er lag im zwölften Stock, war ringsum verglast und man fühlte sich leicht schwebend über den Dächern und das Spiel der Wolken löste sich auf in Lichter und Schatten, die über die Gesichter der jungen Frauen zogen, die sich mir zugewandt hatten, neugierig auf den Neuen.

Auch Dr. Pfister hatte jetzt seinen Kopf mir zugewandt:

„Na, wieder zu spät?“

Pfisters lange blonden Haare hingen ihm in dünnen silbernen Strähnen wie einem traurigen Vogel bis zu den Schultern herab und seine John Lennon-Nickelbrille glitzerte im Licht der hereinbrechenden Sonne.

Er war groß und hager und trug immer egal bei welchem Wetter einen langen roten Regenschirm mit sich, der einen großen, kunstvoll geschnitzten hölzernen Knauf hatte. Für alle Fälle. Er stand jetzt angelehnt an dem Tisch, hinter  dem Dr. Pfister mich lächelnd anblickte: „Ich bin früher auch immer zu spät gekommen, aber jetzt wo ich die Seminare selber leite, kann ich das nicht mehr“

Ich fühlte mich peinlich berührt aber auch geehrt durch die besondere Aufmerksamkeit, die mir zuteil wurde und setzte mich an den Tisch, an dem noch mehrere Stühle frei waren und der zusammen mit anderen Tischen ein Oval bildete. Um die zwanzig Studenten waren versammelt, die Mehrzahl Frauen.

Ich holte ein paar Bücher und ein Schreibheft aus der Tasche.

Pfister referierte über Formensprache der Lyrik, verschiedene Techniken des Aufbaus von Gedichten. Da waren mindestens drei sehr interessante Frauen, die süße Kleine mit den lebhaften braunen Augen neben mir, die etwas arabisch aussah, war wahrscheinlich schon vergeben, der Mann neben ihr tuschelte ihr was zu, sie lächelte, das war schon sehr vertraut, das war wahrscheinlich ihr Freund, dann die direkt gegenüber mit dem forschen Blick und den roten Haaren und dann die Blonde weiter links. Sehr ernst, still, introvertiert, weich, schöne Gesichtszüge. 

Pfister wechselte zu literarischen Interpretations-Theorien. Es gab werkimmanente, soziologische, marxistische, ästhetische….

Irgendwie interessant, aber ich wollte mit einer Frau ins Bett kommen.

Also wie war das noch mal mit dem Libidostau? Wie und wann konnte ich den unterbringen? Irgendwann würde sich schon noch eine Gelegenheit dazu ergeben, ich musste mich vorbereiten, noch ein wenig daran feilen, jedes Wort mir einprägen.

Ich begann wieder still innerlich meinen künftigen Redebreitrag zu sprechen, ihn neu zu formulieren, immer wieder, bis ich das Gefühl hatte, ihn jetzt auswendig gelernt zu haben, so müsste es doch eigentlich gehen.

Ich hörte wieder zu und schrieb mit, was mir schwer fiel, weil es nicht mein Thema war, mein Thema war das Eindringen in das Innere des weiblichen Geheimnisses.

Oh mein Gott, es war schon Viertel nach 12, in einer Viertelstunde war das Seminar zu Ende und ich musste doch noch unbedingt meine Ansprache los werden.
Jetzt vielleicht, ich hob die Hand, aber da war eine andere schneller und sie sagte was, das ich nicht verstand, weil ich gar nicht zu hörte, nur mit  dem Üben meiner Ansprache beschäftigt war: "In diesem Gedicht drückt sich eine Anspannung aus, die man nur verstehen kann, wenn man...."
Jetzt vielleicht...
Ja jetzt.
Jetzt musste es sein. Ich hob die Hand. Jetzt bemerkte mich Dr. Pfister und gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich reden könne.
Ich fühlte einen Überdruck in meinem Schädel, etwas pochte dumpf im Gehirn und ich konnte mein Herz schlagen hören, bis in die Haaresspitzen hinauf dröhnen,
ich erhob mich:
"Ähh ich meine, ähhh, man sieht, dass in diesem Gedichtäää, da drückt sich äh eine gewisse Spannung drückt sich da aus..."
Gebannt mit großen Augen schauten mich die Frauen von den Tischen gegenüber an. Mein Kopf war heiß und musste glühen wie eine Sonne im Hochsommer untergehend über dem Mittelmeer.
Hilfesuchend schaute ich mich um.
"Äh, der Orgasmus, die Funktion des Orgasmus, hat Wilhelm Reich gesagt, dass wir alle Blasen sind, die sich bei einem Orgasmus,... in diesem Gedicht,
da sieht man das deutlich, dass sich das nicht entlädt, dass da so ein äh Libido, Libidostau…äh"
Ich fuchtelte mit den Händen und fühlte mich schwimmen und rudern und untergehen, oh mein Gott, schon wieder so ein Gestammel, wie mitleidig sie alle mir zuhörten, sie kannten mich ja schon mit meinen diffusen Wortbeiträgen. Weiter, ich musste weiter, ich musste da durch.
"Die Stauung, ich meine, das ist so offensichtlich, dass da so eine Art ähhh, Überdruck, das kommt klar in diesem Gedicht zum Ausdruck, besonders in der Todessehnsucht, eine Libidostau, also eine gestaute Libido, ich meine...äh und vor allem äh"
Ich redete sehr schnell und gehetzt und die Worte stauten sich hintereinander, wollten sich gegenseitig überholen und endeten in einer Karambolage.
Ich brach ab und setzte mich wieder.
Verdammt, Scheiße wars, ich hatte Scheiße geredet.

Es hatte nicht funktioniert, ich hatte versagt. Ich hatte die Hosen heruntergelassen, sie hatten mich nackt gesehen, ich war ein Gestörter, ein psychisch Angeknackter, ein Labiler, ein Debiler, ein bemitleidenswerter Fall. Verdammt,

aber scheißegal… 

ich richtete mich innerlich auf, ich hatte es wieder geschafft, ich hatte was gesagt, wie ich es mir vorgenommen hatte, ich hatte wieder was gesagt, das war doch was wert, ich hatte es geschafft.
" Das fand ich jetzt sehr interessant" sagte Dr. Pfisterer und wieder dachte ich, dass er vielleicht schwul ist, wieso sonst sollte er so ein Gestammel irgendwie interessant finden. "Du solltest das vielleicht zum nächsten Mal noch etwas klarer herausarbeiten und vielleicht ein kleines Referat drüber halten. Wir hätten dann neben den literaturhistorischen, dem ideengeschichtlichen, dem strukturellen, werkimmanenten und dem materialistischen Ansatz noch einen neuen, den triebökonomischen Ansatz aus der Psychoanalyse. Welchen Einfluss hat die Libido, die historisch zu ihrer Zeit jeweils spezifisch geprägte Libido auf die Literaturproduktion. Inwiefern spiegelt sich ein bestimmtes Sexualverhalten wieder in Literatur?"
Ich sah Dr. Pfister in weiter Ferne stehen und durch das Pochen in meinem Schädel hindurch drangen seine Worte nur leise zu mir hindurch.

„Okay,“ sagte ich. „Werde ich machen. Wie lange soll es denn sein?“

„So zehn Minuten ungefähr, kann aber auch mehr sein“

„Okay“ Verdammt, was für eine Scheiße hatte ich mir denn jetzt eingebrockt, auch noch einen Vortrag halten….Andererseits eine starke Herausforderung, das Stottern hinter sich zu lassen und zu glänzen, den Frauen zu imponieren.
Und jetzt noch ein Mädchen ansprechen.
Wie wärs denn mit der schweren dunklen Blonden, die jetzt so ernst in ihre Aufzeichnungen blickte?

Aber was sagen?
Irgendwas...
Spazierengehen, essen gehen zusammen.
Ich kritzelte etwas in mein Heft, belangloses Zeug, nur um den Eindruck zu erwecken, ich sei mit dem Stoff beschäftigt.
Der Himmel hatte sich ganz ins Blaue hineinbewegt und die Sonne glitzerte auf den trüben Scheiben.
Irgendwas wurde diskutiert, aber ich hörte nicht zu. Ich war jetzt nur mit der Frage beschäftigt, wie ich diese Frau ansprechen könnte. Alles brannte in mir, ein Feuer loderte und ich  trat aus dem Feuer wie ein Gott und sprach mit donnernder Stimme: Du Blonde sei meine Frau und teile heute Nacht mein Lager!

Und sie schlug dankbar und demütig die Augen nieder und sank auf die Knie und bedankte sich leise.

Immer mal wieder schaute ich hinüber zu ihr und sie, die ihren Kopf vornübergebeugt hatte, schlug jetzt ihre Augen auf , ihre Lider erhoben sich und ihre Augen trafen meine und für einen kurze Augenblick waren wir eins in diesem Blick, dann wendete sie ihren ab und ich starrte noch eine Weile sie an bis ich wieder sehr interessiert nach vorne schaute, wo Dr, Pfister mit seinen langen schlanken Händen gestikulierte und dann auf meine Aufzeichnungen, irgendwelcher sinnlose Quatsch, den  ich als Simulation einer Aufzeichnung da hingeschrieben hatte….

„Wir kommen zum Ende der heutigen Sitzung, bitte lesen Sie die Papiere, die ich Ihnen ausgeteilt haben, es sind nicht viele, kommen Sie pünktlich und nächste Woche hören wir hoffentlich einen interessanten Vortrag zur triebökonomischen Basis der Literaturproduktion, auf wiedersehn bis nächsten Dienstag.“

Die Veranstaltung war zu Ende, Füße scharrten, Stühle knarzten, ein Tumult brach los, Geschnatter erhob sich, wo war sie?

Sie hatte sich erhoben, die Tasche unter den Arm geklemmt, ich musste jetzt irgendwie auf sie zusteuern, an ihr dran bleiben, neben ihr hergehen, an sie ran kommen, mit ihr ins Gespräch kommen, los! Los Mann!

Sie strebte dem Eingang zu, ich hinterher, sie stand vor dem Fahrstuhl, ich stellte mich neben sie, los Mann!

„Hast du weit zur Uni?“

Sie wandte mir den Kopf zu, lächelte ein bisschen: „Nöö“

„Wo wohnst du denn?“

„Oben am Killesberg.“

„Schöne Wohnung?“

„Geht so. Ich hab nur ein Zimmer, ich wohn noch bei meinen Eltern“

Der Fahrstuhl kam, andere Studenten drängten sich davor. Ich musste jetzt dran bleiben, mich nicht abdrängen lassen. Die Tür ging auf, wir waren die ersten, gingen hinein, die anderen hinterher, die kleine Araberin schaute mich interessiert an, ich war eben ein auffälliger Typ, nicht jeder stammelte in einem germanistischen Einführungsseminar etwas vom Orgasmus daher. Sie schaute mich interessiert an, aber der blonde Deutsche mit den langen Haaren hing ihr fast über die Schulter, so dicht neben ihr stand er. Ich kam neben meiner Angebeteten zu Stehen.

„Sind deine Eltern okay?“

„Naja geht so, eigentlich ganz nett“

Was jetzt, was sollte ich jetzt noch sagen?

Erzähl irgendwas, egal was, Hauptsache, du bleibst dran, quassel was, das machen die anderen auch so! Ich war mein eigener Coach.

„Ich wohn in der Grutzmannstr. Bei einem schwulen Pfarrer, also der war mal Pfarrer. Den kommen immer die Tänzer vom Ballett besuchen, die sind auch schwul, jedenfalls die meisten, naja, so genau weiß ich es eigentlich nicht.“

„Die sind alle schwul?“

„Also wahrscheinlich nicht alle, aber viele. Jedenfalls hat er mich mal zu einer Vorstellung eingeladen, Cranko, kennst du den?“

„Cranko? Ja klar, John Cranko.

„Ja also das war ein Ballett von Cranko einstudiert, Nussknacker von Tschaikowsky.

War schon ganz schön…“

Wir waren am Eingang zum Gebäude angekommen, die anderen strömten an uns vorbei, wir blieben stehen, unschlüssig, wohin weiter wir gehen sollten.

„Und nach der Vorstellung hat er einen Blumenstrauß, rote Rosen, in der Hand gehabt, also der schwule Pfarrer, Ex-Pfarrer eigentlich, weil er arbeitet nicht mehr als Pfarrer, also hat rote Rosen aus der ersten Reihe auf die Bühne geworfen, immer wenn die Tänzer gekommen sind, so mit großer Geste, theatralisch, rote Rosen auf die Bühne geworfen.“

Sie lachte. „Möchte ich auch mal, dass mir jemand rote Rosen zuwirft“

Ich fasste mir ein Herz: „Sollen wir noch ein bisschen in den Park, spazieren gehen?“

„Okay“

„Gehen wir hier runter?“

„Ja, das ist doch gleich da vorne“

Wir gingen los.

Hat doch super geklappt. Gut gemacht, weiter so!